02/07/2024 0 Kommentare
Ein ganzer Tag, um zu büßen und zu beten?
Ein ganzer Tag, um zu büßen und zu beten?
# Wir in der Welt
Ein ganzer Tag, um zu büßen und zu beten?
Wahrscheinlich stimmen einige zu, wenn ich sage, dass mir als Seelsorger im Gefängnis der Buß- und Bettag wichtig ist:
„Na klar, die Gefangen sollen büßen, deshalb sitzen sie im Gefängnis.“
Vielleicht ist es im Gefängnis leichter über Schuld und Buße zu reden als draußen in der Freiheit. Dabei kennt jeder das Gefühl, wenn er oder sie mit einer Beurteilung von Vorgesetzten konfrontiert wird und es in einem rumort:
„So richtig und wirklich alles, was ich geleistet habe und wie ich bin, ist nicht wahrgenommen.“
Und im Streit mit Freunden, fühlt man sich noch schneller falsch beurteilt:
„Der versteht, der kennt mich gar nicht – und trotzdem urteilt er über mich!“
Den Gefangenen geht es ähnlich. Zwar hat mit dem Urteil ein Gericht die Schuld festgestellt, aber das Gericht stellt EINE Wahrheit fest. All das, was man denkt und fühlt:
„Ich habe das nicht gewollt; ich bin da doch nur reingeraten; warum sehen die nicht, was die anderen gemacht haben; das war doch ganz anders.“
Das sind Versuche sich zu verteidigen. Vor Gericht hat jeder das Recht sich zu verteidigen. Aber wenn das Urteil gefallen ist, schwarz auf weiß, im Namen des Volkes, spielt diese subjektive Wahrheit keine Rolle mehr.
Dabei wäre es so gut, wenn es einen Ort gäbe, an dem man seine eigene Sicht der Dinge darlegen könnte – ohne sich verteidigen zu müssen. Wenn man sich nicht verteidigen, nicht Deckung hinter Mauern suchen muss, dann könnte man auch sagen, was man tatsächlich gemacht hat, ja, falsch gemacht hat. Und dann würde das Falsche einem leidtun.
Man brauchte einen Ort, wo man so sein könnte wie man wirklich ist. An dem man nicht fürchten muss, für das Falsche und Böse, verdammt zu werden.
Die Gefangenen, die am Buß- und Bettag in den Gottesdienst gehen, suchen genau das: Dass einer ihnen zuhört, ihrer Stimme im Herzen und den Gedanken ihres Verstandes. Dass sie das Falsche und Böse nennen können. Sie haben eine Ahnung, dass Gott ein strenger Richter ist. Aber sie vertrauen darauf, dass er gerecht ist. Und dass er auch das Gute sieht. Und dass er in mir die Kraft pflanzt, damit das Gute die Oberhand gewinnt.
Ich vermute, dass man diese Erfahrung nicht nur im Gefängnis braucht.
Bleiben Sie Gott befohlen!
Michael Diezun, Gefängnisseelsorger in der JVA Lüttringhausen
Dieser Beitrag erschien am 19.11.2022 im Lüttringhauser Anzeiger
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