Was ist das Faszinierende am Improvisieren: Superintendentin Antje Menn denkt mit Tänzerin Joy Kammin darüber nach

Was ist das Faszinierende am Improvisieren: Superintendentin Antje Menn denkt mit Tänzerin Joy Kammin darüber nach

Was ist das Faszinierende am Improvisieren: Superintendentin Antje Menn denkt mit Tänzerin Joy Kammin darüber nach

# Kirche im WDR

Was ist das Faszinierende am Improvisieren: Superintendentin Antje Menn denkt mit Tänzerin Joy Kammin darüber nach

Kirche in WDR 5 – Das Geistliche Wort  Sendedatum: Sonntag, 10.09.2023 Autorin: Pfarrerin Antje Menn, Remscheid

O-Ton 1 [Joy Kammin]: Improvisation bedeutet auf jeden Moment und jede Situation neu zu reagieren, flexibel zu bleiben, Ideen in den Raum zu bringen, offen für Veränderung zu sein, im Moment spontan zu bleiben im Austausch mit sich selbst und den anderen zu sein.  

Joy Kammin und Superintendentin Antje Menn nach ihrem Gespräch.

Antje Menn: Joy Kammin ist Tänzerin. Sie arbeitet freischaffend als Choreografin und Künstlerin mit Schwerpunkt im Zeitgenössischen Tanz. Improvisieren ist eine ihrer Leidenschaften. Sowohl beim Aufwärmen als auch auf der Bühne, sich einlassen auf sich selbst und auf andere. Bilder und Sequenzen im Moment entstehen lassen.   

O-Ton 2 [Joy Kammin]: In Improvisation ist es ganz wichtig, dass man sich Zeit lässt, dass man wirklich wahrnimmt, was schon da ist, dass wir erstmal zuhören, dass wir hinschauen, und dann von da losgehen. Dass wir quasi diesen Nullpunkt erstmal etablieren oder diesen Ausgangspunkt etablieren und den wirklich ja in uns rein lassen und nicht irgendwo direkt hin hetzen, direkt irgendwelche Erwartungen erfüllen wollen, denn so hat man wirklich dann einen Boden dafür geschaffen, dass etwas Neues wachsen kann, dass etwas Interessantes wachsen kann.  

Antje Menn: Improvisation ist für Joy Kammin ein kreativer, schöpferischer Prozess, der neue Gedanken, neue Formen und Bilder freisetzt. Pulsierende Vielfalt und Innovation in eins. Ich werde hellhörig. Was Joy erzählt, widerspricht so ganz und gar dem alltäglichen Image von Improvisation. Da haftet dem Improvisieren oftmals der Ruf des Beliebigen, der Stümperei an. 

Wer improvisiert, ist wohl nur halb fertig geworden, weil die Zeit zur Vorbereitung wieder einmal nicht gereicht hat.  Oder ich muss aus der Not heraus eine Lösung finden, vielleicht beim Backen, wenn eine Zutat fehlt. Neulich wieder mein Klassiker: das fehlende Ei beim Muffinbacken. Die Nachbarn, bei denen ich sonst in solchen Fällen klingle und mir ein Ei schenken lasse, sind nicht da. Ich helfe mir mit einer zerquetschten Banane aus. 

Es gelingt – und schmeckt. Gut sogar, wenn auch anders als gewohnt. „Improvisieren! Lob der Ungewissheit“ So lautet der Titel eines Essays des Philosophen Georg W. Bertram und des Musikjournalisten und Klangkünstlers Michael Rüsenberg. Sie wollen dieses Missverständnis überwinden, als sei Improvisieren etwas Mangelhaftes.

„Wir sollten lernen“, so werben sie, „im Improvisieren eine Stärke zu sehen, die uns als Menschen ausmacht.“ [1] Improvisieren ist dann nicht nur eine Spielart in der Kunst wie im Jazz oder im Tanz. Sondern diese Fähigkeit findet sich auch in Lebensbereichen, in denen man zunächst keinen Bezug zur Improvisation erwartet. Doch mir erschließt sich das schnell. 

Plötzlich nehme ich auch im Bereich des Rechts und der Medizin, in Politik und Fußball Momente der Improvisation wahr. Das, was Joy Kammin beim Improvisationstanz erlebt, erkenne ich auch im Alltag. Eine Art improvisierende Grundhaltung lernen und leben. Das geht. Für sich selbst und in der Begegnung mit einer anderen oder mehreren Personen. Auch das kennt die Tänzerin:  

O-Ton 3 [Joy Kammin]: Das heißt Kontaktimprovisation. In der man wirklich in den Kontakt kommt, in der man über Berührungen, über Blickkontakt über Spüren der Dynamik mit der anderen Person in den Austausch kommt, und auch hier muss man immer zuhören, und immer offen dafür sein, dass die eigene Idee vom anderen gar nicht so wahrgenommen wird, und der eigentlich eine ganz andere Idee hatte. Und das ist immer eine kontinuierliche Kommunikation. Ein Geben und Nehmen, ein Hinhören, ein Erzählen und irgendwann merkt man dann gar nicht mehr, wer führt, wer folgt, und das ist wie in einem guten Gespräch.  

Antje Menn: Wie oft nimmt ein Gespräch eine andere Wende, als ich das vorher gedacht habe und ich muss völlig neu reagieren. Da wirft meine Gesprächspartnerin ein Argument ein, das mir gar nicht geläufig ist, und die Diskussion geht in eine neue Richtung. 

Schema-Antworten passen da nicht mehr. Oder mein Gesprächspartner konfrontiert mich mit einem Gefühl, das mich berührt und umdenken lässt. Wie bei jenem Kollegen, der mir erzählt, worum es ihm in einem Konflikt wirklich geht. Weniger um den Sachverhalt als mit seiner Arbeit gesehen zu werden. Von da an geben wir gemeinsam dem Gespräch eine andere Ausrichtung.  

In einem Gespräch gehen immer Impulse von beiden Seiten aus. Und sogar bei Selbstgesprächen kann es passieren, dass ein neuer Gedanke, von wo auch immer, mich unterbricht. 

Die improvisierende Haltung lädt ein, solche Impulse wahrzunehmen und aufzugreifen, meinen Plan loszulassen und offen weiterzudenken. Gespräche entwickeln sich, genau wie der Tanz, wenn man es zulässt.  

O-Ton 4 [Joy Kammin]: Dass es halt ein ganzer Flow wird, und ja das ist auch ein sehr, sehr schöner Moment für mich in der Improvisation mit jemand anderem zusammen.  

Antje Menn: Wenn ich der Tänzerin Joy zuhöre, den Gedanken über das Improvisieren freien Lauf lasse, merke ich, wie das auch meinen Glauben berührt. Ich frage mich, ob Improvisieren nicht auch eine Eigenschaft Gottes ist, vielleicht sogar sein ureigenstes Tun. 

Da gibt Gott sich zu Beginn der Geschichte Israels dem Mose zu erkennen. Der ist als Anführer des Volkes berufen und fragt, was er denn seinem Volk sagen soll, wer Gott sei. Gott antwortet, indem er seinen Namen kundtut. 

Aus einem brennenden Dornbusch spricht Gott, so die Überlieferung: „Ich bin da als der ich da sein werde“ oder anders übersetzt „Ich werde sein, der ich sein werde.“  

Was für ein Name! Was für eine Zusage. Unverbrüchlich da zu sein für Mose und sein Volk. Mitzugehen auf ihrem Weg raus aus der Knechtschaft in die Freiheit, aus Ägypten ins gelobte Land. „Ich bin da als der ich da sein werde. Dies ist mein Name für alle Zeiten und für alle Generationen.“ 

Das ist ein Zeichen der Treue und Beständigkeit Gottes. Und es zeigt gleichzeitig: Gott wird improvisieren. Die Zukunft ist offen. Gott nimmt sich die Freiheit, sich je anders zeigen und anders handeln zu können. Der eigenen Liebe freie Bahn zu lassen. So wie es dran ist. So wie Menschen es jeweils verstehen können. So wie sie es brauchen. Ob in Feuer- und Wolkensäule auf dem Weg ins gelobte Land. Ob im Kind in der Krippe. Gott improvisiert sich je neu in die Welt hinein. Nomen es omen. „Ich bin da als der ich da sein werde.“ 

Der jüdische Literaturwissenschaftler Stéphane Mosès interpretiert die Selbstvorstellung Gottes an Mose noch offener, noch spannungsvoller. Er übersetzt: „Ich bin der, den ihr aus mir machen werdet.“ [2] Ein Name, der in Beziehung steht zu den Menschen, der offen ist in Richtung Zukunft. [3] Ein Name voller Möglichkeiten. Gott, der Raum lässt und Raum gibt für unterschiedliche Erfahrungen. Der sich dabei auch riskiert. 

Für Mose wird die Begegnung am Dornbusch zu einem Morgen der Freiheit. Einer Freiheit, die Freiheit zum Improvisieren beinhaltet – für ihn und für Gott.  

Antje Menn: Improvisieren – Sehen, was gerade dran ist. Eine kreative Begegnung, in der jede und jeder mehr erlebt, als sie oder er zunächst selbst begreifen kann. Im Neuen Testament erzählt davon eine Geschichte aus dem Lukasevangelium. Eine Geschichte voller improvisatorischer Momente:  

Sprecher: Und Jesus ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden zu viel abgepresst habe, so gebe ich es vierfach zurück. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams.  

Antje Menn: Da hängt er, auf einem Baum zwischen Himmel und Erde. Zachäus, jener berühmtberüchtigte Zöllner, will Jesus sehen. Doch Zachäus ist klein. Mit seiner fehlenden Körpergröße bekommt er inmitten der Menschenmenge am Wegesrand nichts zu sehen.

Vorlassen wird man ihn auch nicht, den Halsabschneider. Immerhin treibt er die Steuern ein für die verhassten Römer. Wirtschaftet wohl auch in die eigene Tasche. Mit ihm will keiner etwas zu tun haben. Ideen sind jetzt gefragt. Improvisieren. Zachäus geht einen unkonventionellen Weg. Er klettert auf einen Baum.  

Und – Überraschung: als Jesus kommt, geht er nicht einfach an dem Baum vorbei, sondern bleibt unvermittelt stehen. Lässt sich auf seinem geplanten Weg unterbrechen. Jesus sieht Zachäus und sieht ihn an. 

Womöglich erkennt er den Mann auf der Suche. Mit Sehnsucht im Herzen, nach Kontakten, nach Ansehen, nach Dazugehören. Nach einem Mehr in seinem Leben.  Nach Drehbuch läuft nun gar nichts mehr. Es kommt zu einer Begegnung auf Augenhöhe. 

„Beeil dich, komm herunter von deinem Baum!“ , sagt Jesus, „Heute muss ich in deinem Haus einkehren.“ Zachäus greift den Impuls auf und nimmt Jesus voll Freude bei sich auf.  So sitzt Jesus bei Zachäus am Tisch. Auch andere Gäste sind da. Es gibt zu Essen und zu Trinken, die beiden reden miteinander. Wer weiß, worüber sie sprechen. Es ist einer dieser Abende, an dem sich etwas verändert. 

Zachäus erlebt vielleicht nach langer Zeit mal wieder Gemeinschaft. Auf einmal stellt er sich hin und sagt: „Ich will die Hälfte meines Reichtums an die Armen geben, und wenn ich von jemandem zu viel abgepresst habe, gebe ich es vierfach zurück.“ 

Zachäus merkt offenbar, wo sein Leben aus dem Takt geraten ist. Er will wieder Tritt fassen. Unaufgefordert. Aus freien Stücken. Jetzt.  Wo improvisiert wird und einer den anderen achtet, wächst die Fehlerfreundlichkeit. Da wird ein Verstolperer in den weiteren Tanz eingebaut, ein schiefer Ton wieder aufgefangen, ein Fehler in das eigene Leben integriert. Als Jesus in das Haus des Zachäus kommt, wird daraus am Ende des Abends eine unerwartete Bewegung: Umkehr. Zachäus will wieder seinem Namen entsprechen, der heißt im Hebräischen „der Gerechte“. Er will zurückgeben, von dem, was ihm nicht rechtmäßig gehört. 

Die Begegnung mit Jesus hat in Zachäus Vertrauen gestärkt, auch in die eigene Fähigkeit, nun anders leben zu können.   

Antje Menn: Zachäus hat Abschied genommen von seiner alten Lebensdevise zu raffen, wo immer es geht. Jetzt will er teilen, was er an Vermögen hat. Es weitergeben, um die Not anderer zu wenden. Zachäus kann ein Vorbild sein.  In einer von zahlreichen Krisen geschüttelten Zeit werden auch wir das Improvisieren lernen müssen. Angesichts der Klimabedrohung den Sprung in verändertes Handeln schaffen. Teilen und verzichten lernen, Ideen für Neues entwickeln, wenn Unvorhergesehenes auf uns zukommt.  

In der Coronazeit haben wir erlebt, dass die Wirklichkeit, wie wir sie kannten, plötzlich aufgelöst war. Es gab wohl kaum jemanden, für den das Leben wie gewohnt weiterging. Kitas und Schulen geschlossen, Geschäfte und Kultureinrichtungen ebenfalls. Selbst Spielplätze und Kirchen konnten vorübergehend keine Treffpunkte sein. Viele Menschen wurden kreativ. Es musste schnell entschieden und gehandelt werden. 

Oftmals ging das nur auf Sichtweite. Schulen setzten auf Online-Formate, Arbeitgeber auf Home-Office, Wohnzimmer wurden zu Fitness-Studios oder Kinderzimmern und Sofas zu Kirchenbänken. Auch die Nachbarschaftshilfe schlug neue Wege ein. 

In Treppenhäusern hingen Zettel mit Einkaufslisten, die Kirchen riefen auf zum abendlichen Musizieren auf Balkonen und in Gärten.  Immer wieder mussten Maßnahmen nachjustiert und Wege berichtigt werden. Ich denke nur an die Besuchsmöglichkeiten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, an Zugangsbeschränkungen im öffentlichen Raum. 

Wir haben gelernt, uns auch mit vorläufigen Entscheidungen begnügen zu können. Improvisieren. 

Der Theologe und Philosoph Jean-Pierre Wils [4] sieht in den Lockdowns der Coronazeit wichtige Unterbrechungen. Sie zeigen, dass es nach diesen verstörenden Erfahrungen keine Rückkehr mehr gibt zu dem Status von vorher. Mehr noch bilden sie aus seiner Sicht eine Kluft, die uns von dem trennt, was in der Vergangenheit normal war. Anders als bisher angenommen, können wir nicht mehr davon ausgehen, dass das Leben steuerbar ist. 

Wir Menschen haben nicht alles im Griff. Und wir können Krisen nicht aussortieren wie Zufälle. Vielmehr müssen wir unser Augenmerk auf die absehbaren und unabsehbaren Folgen unseres Lebensstils richten. Gerade da, wo es um den Umgang mit dem Klima geht. So JeanPierre Wils. 

Das heißt aufmerksamer, selbstkritischer, bescheidener und rücksichtsvoller werden. Lernen, mit einer unvorhergesehenen Situation umzugehen und sie für sich produktiv machen zu können. Wir werden gehörig improvisieren müssen in der Zukunft. Und Planungen über den Haufen werfen. Und noch einmal ganz anders ansetzen. [5] 

Joy Kammin, die Tänzerin, sagt:  O-Ton 5 [Joy Kammin]: Ich persönlich liebe Improvisation, weil es mir ein Gefühl von Freiheit gibt. Ich kann mich frei ausdrücken, ich kann Freiheit im Körper finden. Dabei kommt mir mein technisches Tanztraining zugute, aber dieses immer wieder Überraschtsein, Neues finden, ja und in einen Flow geraten, dieser Flow ist eigentlich das, was mein Lieblingszustand im Tanz ist.  

Antje Menn: Das finde ich spannend. Nicht improvisieren müssen, weil das Gewohnte nicht mehr geht, sondern improvisieren dürfen, damit etwas Neues entsteht. Mit einem Gefühl von Freiheit. Nicht auszudenken, wir kämen als Gesellschaft in einen solchen Flow. Überlegen, zuhören, etwas ausprobieren und wieder verändern. Die neusten Erkenntnisse einbeziehen, auf andere Meinungen hören und dann wieder einen Schritt weiterkommen.  Ich frage mich selbst: Wie groß ist meine Bereitschaft, mich aufs Improvisieren einzulassen? Wie viele Chancen habe ich schon verstreichen lassen und wie kann ich Improvisieren als eine Stärke sehen? 

„Ich bin da als der ich da sein werde“ – so hat Gott sich Mose vorgestellt vor seiner großen Aufgabe, sein Volk aus der Knechtschaft in die Freiheit zu führen. So hat Gott sich selbst seinem Volk versprochen. In Treue und Liebe für sie da zu sein. So wie sie es jeweils verstehen können. Ich bin da als der ich da sein werde. Das ist seine Freiheit.  


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